Die Wimmelnde Leere

 

Um Mitternacht gehörte die Stadt mir allein. Die Bürgersteige lagen verlassen da, schmale Bänder aus grauem Licht unter flackernden Laternen. Kein Auto, kein Mensch war zu sehen. Nur mein eigenes Echo folgte mir auf Schritt und Tritt – ein einsamer Klang in der stillen Nacht. Doch obwohl die Straßen leer waren, spürte ich eine unsichtbare Geschäftigkeit um mich herum, als würden in den stillen Häusern ringsum unzählige Leben gleichzeitig rauschen. Es war eine wimmelnde Leere, die mich umgab: paradox und doch vertraut.

Ich schlenderte an Schaufenstern vorbei, in denen tagsüber bunte Waren glänzten. Jetzt spiegelten sie nur die Dunkelheit – und meine Gestalt. Im Vorübergehen warf ich einen Blick in eine dieser Glasflächen und blieb abrupt stehen. Da war jemand, direkt neben mir im Spiegelbild! Mein Herz stolperte. Eine junge Frau stand an meiner Seite und blickte mich aus müden Augen an. Irritiert drehte ich mich um – doch hinter mir war niemand. Zurück zur Scheibe: Dort sah ich nur mich selbst, allein auf dem Gehsteig, den Kragen meines Mantels hochgeschlagen. Keine Spur der Frau. Ich holte tief Luft. Ein Trugbild, dachte ich, eine Reflexion irgendeines alten Posters hinter der Scheibe. Trotzdem beschleunigte sich mein Puls. Für einen Moment hatte ich das unheimlich vertraute Gesicht der Fremden erkannt. War sie nicht ich? So wie ich vor zehn Jahren war, jünger und verloren?

Ich schüttelte den Gedanken ab und ging weiter. Meine Schritte hallten zwischen den Häusermauern. Nach ein paar Metern hörte ich weitere Schritte, die nicht von mir stammten – ein leichter, tänzelnder Takt, als folgte mir jemand mit ein wenig Abstand. Das Echo? Nein, das Echo meiner eigenen Schritte klang anders. Ich drosselte mein Tempo und horchte. Klack… klack… Tatsächlich, da war ein zweiter Schritt. „Hallo?“, rief ich leise in die Gasse. Keine Antwort. Nur das Summen einer Straßenlampe. Mir lief ein kühler Schauer über den Nacken, doch zugleich musste ich lächeln. Vielleicht spielt mir meine Einsamkeit einen Streich, dachte ich. Die Illusion Gesellschaft zu haben – selbst wenn es nur das eigene Echo ist – kann tröstlich sein. Also lud ich meinen unsichtbaren Begleiter im Geiste ein, mich ruhig weiter zu begleiten. Im selben Moment verstummte das fremde Füßeklappern. Absolute Stille legte sich um mich. Seltsam enttäuscht ging ich weiter.

An der nächsten Straßenecke flammte ein Neonlicht auf. Ich blickte hoch: Es war das alte Schild eines Kinos, seit Ewigkeiten geschlossen. Das U-förmige Neonrohr des Wortes “Traumfilm” flackerte unregelmäßig. Im flirrenden Lichtschein sah ich plötzlich Schatten über die Hauswand huschen – als zögen Gestalten vorbei. Da! Zwei, drei menschliche Silhouetten, geschäftig winkend, mit Hüten und Mänteln aus einer anderen Zeit. Ich blinzelte überrascht. Die Schatten hielten inne, als hätten sie bemerkt, dass ich sie beobachte. Einer dieser Umrisse – groß und schlaksig – löste sich von der Wand und schien auf mich zuzutreten. Instinktiv wich ich zurück, das Herz schlug mir bis zum Hals. Im selben Augenblick erlosch das Neonlicht wieder. Die Wand lag in Dunkelheit, leer und unschuldig. Keine Gestalt weit und breit. Nur mein eigener Atem vor meinem Gesicht.

Ich lachte leise, um meine Anspannung zu lösen. Eine richtige Gespensterstunde, dachte ich mit nervösem Humor. Doch waren es Gespenster? Irgendetwas an den Schatten kam mir bekannt vor – als hätten sie die Umrisse von Menschen geformt, die ich einst kannte… oder die ich hätte sein können. Der eine große Schatten erinnerte mich flüchtig an meinen Jugendfreund, den ich aus den Augen verloren hatte, oder war es doch mein eigenes älteres Ich in ferner Zukunft? Eine Frau unter den Schemen hatte die Hand erhoben, als winke sie mir zu – so hatte meine Mutter immer gewunken, damals, vom Fenster, wenn ich abends wegging. Diese Erkenntnis traf mich unerwartet weich. Bist du einsam?, schien eine innere Stimme zu flüstern, Hier, die Geister deiner Erinnerung halten dich Gesellschaft.

Ich ließ den Blick über die dunklen Häuserzeilen schweifen. Hinter vielen Fenstern war es finster, hinter manchen schimmerte schwach ein Nachtlicht. In meinem Kopf jedoch erwachten die Räume hinter all den Fenstern zum Leben: Ich stellte mir vor, wie in jedem Apartment eine Version von mir wohnte – unzählige Möglichkeiten meines Daseins, die sich wie in einem Wimmelbild über die Stadt verteilten. Dort oben, im dritten Stock jenes Altbaus, saß vielleicht der Musiker in mir am Fensterbrett und zupfte verträumt Gitarre. Zwei Häuser weiter beugte sich der Gelehrte in mir über alte Bücher, das Gesicht vom Schein einer Lampe erleuchtet. Und irgendwo ganz oben auf dem Hochhausdach stand der Abenteurer in mir, der in den Sternenhimmel schaute, bereit aufzubrechen. Je länger ich in Gedanken durch diese unsichtbare Stadt meiner Selbst wanderte, desto mehr Gestalten tauchten auf: fröhliche, wütende, ängstliche, hoffnungsvolle. Sie winkten einander zu, riefen durcheinander – ein stummes Gewimmel hinter stillen Mauern. Mir wurde schwindelig bei der Vorstellung all dieser möglichen Identitäten, die in den Straßen meiner Stadt umhergingen. War das wirklich alles ich? Oder verlor ich endgültig den Verstand?

Ich schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Der kühle Nachtluftzug schmeckte nach Herbst und Wirklichkeit. Als ich die Augen wieder öffnete, war die Vision verblasst. Die Stadt lag wieder schweigend und leer vor mir, als wäre nichts gewesen. Doch etwas hatte sich verändert: Die Leere fühlte sich nicht mehr bedrohlich an. In mir klang das Echo der gesehenen Bilder nach, als hätten all diese möglichen Ichs mir heimlich Mut zugesprochen. Ihr seid also doch da, dachte ich beruhigt, alle bei mir. Ein Gefühl leiser Verbundenheit durchrieselte mich.

In diesem Moment läutete in der Ferne eine Kirchturmuhr eins. Ein einzelner Schlag, klar und real. Zeit, nach Hause zu gehen. Mit leichten Schritten bog ich in meine Straße ein. Im Vorbeigehen warf ich einen letzten Blick in einen kleinen Spiegel an der Straßenecke, der Verkehrsteilnehmern um die Kurve hilft. Mir begegneten darin meine eigenen Augen – starr und prüfend. Ich hielt inne. Würde mein Spiegelbild mir vielleicht erneut ein Eigenleben zeigen? Würde es lächeln oder blinzeln, obwohl ich reglos dastand? Ein kurzer Anflug von Erwartung packte mich. Doch nein – im Konvexspiegel sah ich nur mein müdes Gesicht, umrahmt von leerer Straße. Genau so, wie es sein sollte.

Trotzdem lächelte ich jetzt. Die Illusionen der Nacht hatten etwas in mir geweckt, eine Ahnung, dass die Grenzen meiner Realität durchlässiger waren als gedacht. Allein war ich jedenfalls nicht – nicht wirklich. Mit diesem tröstlichen Gedanken drehte ich mich vom Spiegel weg und machte mich auf den Heimweg. In den Fenstern über mir war noch immer Dunkelheit. Aber ich wusste: Hinter manchen würde bald ein Licht angehen, spätestens mit dem ersten Morgengrauen. Die wimmelnde Leere der Nacht würde dem Licht eines neuen Tages weichen. Und was auch immer wirklich gewesen war oder nur meiner Vorstellung entsprungen ist – es gehörte nun zu meiner Wahrheit. Ich zog meinen Mantel fester um mich und ging lächelnd der aufgehenden Sonne entgegen.

– Ende –

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